Dunkle Wolken und Silberstreifen am Horizont

Eine Nachlese der Münchner Sicherheitskonferenz 2024

Angesichts der katastrophalen globalen Sicherheitslage hingen dunkle Wolken über der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz. Die sechzigste Konferenz war eine außergewöhnliche, musste sich aber auch mit außergewöhnlich vielen Krisen und Herausforderungen befassen, was eine umfassende Bilanz unmöglich macht. Dennoch kristallisierten sich einige Kernthemen heraus: die Notwendigkeit, die transatlantische Geschlossenheit vor Isolationismus zu schützen; der Aufruf an Europa, jetzt zu handeln; die Versuche, den Teufelskreis der Gewalt im Nahen Osten zu durchbrechen; die Neugestaltung der globalen Ordnung; und, in allen Bereichen, das Finden – oder Verfehlen – von Silberstreifen am Horizont.

Kernpunkte

  1. Es hingen dunkle Wolken über der sechzigsten Münchner Sicherheitskonferenz. „Lose-Lose“-Dynamiken drohen, die Früchte globaler Kooperation zu erodieren; die Welt ist mit einer Rekordzahl von Konflikten konfrontiert; und globale Herausforderungen wie die Klimakrise werden sich nicht von selbst lösen.

  2. Die transatlantischen Partner bekräftigten ihre anhaltende Unterstützung für die Ukraine trotz Ermüdungserscheinungen und einer zunehmenden Politisierung der militärischen und finanziellen Hilfe. Die europäischen Regierungen stellen sich allmählich ihrer Verantwortung für die Sicherheit auf dem Kontinent, aber der Wettlauf gegen die Zeit in der Ukraine erfordert schnelleres und substanzielleres Handeln.

  3. In den Diskussionen um den Krieg in Gaza ging es um mögliche Elemente eines umfassenden Friedensabkommens zwischen Israel, den Palästinenser:innen und den arabischen Staaten, darunter kurzfristig die Freilassung der israelischen Geiseln, ein Waffenstillstand und humanitäre Hilfe für Gaza. Aus der Tragik könnte eine positive Dynamik erwachsen, sofern Divergenzen über die Reihenfolge der Maßnahmen und die längerfristige Vision einer friedlichen Koexistenz von Israelis und Palästinenser:innen überwunden werden können.

  4. Die genannten Konflikte haben die Kluft zwischen den transatlantischen Partnern und den Ländern des Globalen Südens vertieft und Klagen über Doppelstandards verstärkt. Eine globale Ordnung, die für alle funktioniert, erfordert reformierte internationale Institutionen und eine größere Solidarität hinsichtlich der Herausforderungen, vor denen Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika stehen.

Die sechzigste Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) fand in einem düsteren sicherheitspolitischen Umfeld statt. Gewaltsame Konflikte haben ein erschütterndes Ausmaß an menschlichem Leid verursacht: Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine, der Terror der Hamas und der Vergeltungsschlag Israels, ein regionaler Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten und Konflikte aller Art von Haiti bis Sudan – 35 allein in Afrika[1] – und von Jemen bis Myanmar. Globale Herausforderungen wie zunehmende Ungleichheit, der sich beschleunigende Klimawandel, grassierende Ernährungsunsicherheit, die Rückkehr nuklearer Proliferation und der rasche technologische Wandel lösen sich nicht von selbst. Die Gräben zwischen den Großmächten erschweren die Bewältigung dieser Herausforderungen. Darüber hinaus scheinen viele Länder auch zunehmend desillusioniert von der internationalen Zusammenarbeit in einer globalen Ordnung, in der Gewinne ungleich verteilt sind. Viele Regierungen verengen ihren Horizont und konzentrieren sich darauf, ihr eigenes „Stück vom Kuchen“ zu schützen, anstatt Zusammenarbeit zum Wohle aller anzustreben. Der Munich Security Report 2024 wirft daher die Frage auf, ob vermehrtes Nullsummendenken die Welt in einen Teufelskreis von „Lose-Lose“-Dynamiken führen könnte.[2]

Die Vielzahl an Herausforderungen und Krisen schlug sich in der Größe und Diversität der sechzigsten Konferenz nieder. Über die Jahrzehnte hat sich diese von einem verrauchten Raum voller Männer aus NATO- Ländern zu einem führenden globalen Forum für holistische Debatten über internationale Sicherheit entwickelt. Sie spiegelt nicht nur die wachsende Bedeutung von Frauen und des sogenannten Globalen Südens in der Debatte wider, sondern setzt sich auch zum Ziel, diese aktiv voranzutreiben. Die Konferenz brachte fast 1.000 Teilnehmende aus 109 Ländern zusammen, darunter 45 Staats- und Regierungschef:innen. Auf den 60 Veranstaltungen des Hauptprogramms waren mehr als die Hälfte der Redner:innen weiblich und über ein Viertel aus dem Globalen Süden. Darüber hinaus gab es eine Rekordzahl von über 200 Seitenveranstaltungen, die von führenden öffentlichen und privaten Organisationen ausgerichtet wurden.

Im Zuge der Vorstellung des Munich Security Report im Vorfeld der Konferenz hatte der Vizepräsident der Europäischen Kommission Margaritis Schinas davor gewarnt, „dem intellektuellen Reiz des Pessimismus“[3] zu verfallen. In diesem Sinne eröffnete der MSC-Vorsitzende Christoph Heusgen die Konferenz und ermutigte die Teilnehmenden, zwischen dunklen Wolken auch nach Silberstreifen am Horizont zu suchen.

Die transatlantische Geschlossenheit vor Isolationismus schützen

Wenige Minuten vor dieser Eröffnung traf die Nachricht vom Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny ein. Seine Frau, Julija Nawalnaja, erhielt die Nachricht vor Ort bei der Konferenz. Ihre tapfere Rede, in der sie die internationale Gemeinschaft aufforderte, Putin und seinen Zirkel zur Verantwortung zu ziehen, gab den Ton für die weiteren Debatten vor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sah in der Bekanntgabe von Nawalnys Tod eine klare Botschaft an die Teilnehmenden der Konferenz. Er betonte, Putin führe einen „Krieg gegen jegliche Regeln.“ Selenskyj rief dringend dazu auf, den „künstlichen Mangel“ der Ukraine an Artilleriemunition, Langstreckenraketen und Luftabwehrsystemen zu beheben. Der Fall von Awdijiwka an russische Truppen während des Konferenzwochenendes verdeutlichte die dramatischen Folgen der schwindenden ukrainischen Munitionsvorräte.

Während die Konferenz im Vorjahr ganz im Zeichen der transatlantischen Geschlossenheit stand, die Ukraine ‚so lange wie nötig‘ zu unterstützen, war die diesjährige von Unsicherheit geprägt.

Randolf Carr und Nicole KoenigMunich Security Debrief 1/2024: Dunkle Wolken und Silberstreifen am Horizont

Während die Konferenz im Vorjahr ganz im Zeichen der transatlantischen Geschlossenheit stand, die Ukraine „so lange wie nötig“ zu unterstützen,[4] war die diesjährige von Unsicherheit geprägt. Die Diskussionen fanden vor dem Hintergrund der währenden Blockade eines 60-Milliarden-Dollar-Hilfspakets für die Ukraine im US-Kongress statt. Kurz vor der Konferenz sorgte Donald Trump, der Favorit in der republikanischen Präsidentschafts-Vorwahl, für Erschütterung in Europa, als er hinterfragte, ob die USA unter seiner Führung Verbündete schützen würden, die nicht genug für die Verteidigung ausgeben, und Russland sogar ermutigte, mit ihnen „zu machen, was immer es will.“[5]

Die USA, in München vertreten durch Vizepräsidentin Kamala Harris und Außenminister Antony Blinken sowie eine überparteiliche Kongressdelegation, versuchten, die Ukraine und die NATO-Verbündeten zu beruhigen. Harris erteilte dem Isolationismus eine klare Absage und erklärte, Amerika könne sich nicht abschotten und Isolation biete keinen Schutz. Sie betonte, wie wichtig es sei, die Ukraine weiterhin zu unterstützen, nicht zuletzt, weil das Versäumnis, Russland für seinen Angriffskrieg ernsthafte Konsequenzen aufzuerlegen, andere autoritäre Staaten bestärken würde. Harris verwies auch auf das „heilige“ und „eiserne“ Bekenntnis der USA zur NATO und zeigte sich zuversichtlich, dass die dringend benötigte Hilfe für die Ukraine mit parteiübergreifender Unterstützung freigegeben werden würde. Bei einem Treffen am Rande der Konferenz bekräftigten auch die G7-Außenminister:innen ihre „unerschütterliche Entschlossenheit, die Ukraine weiterhin zu unterstützen.“[6] Während viele US-Vertreter: innen diese Botschaft unterstrichen, argumentierten einige, wie die republikanischen Senatoren Pete Ricketts und J.D. Vance, dass „in einer Welt der Knappheit“ für die USA andere Themen, insbesondere die irreguläre Migration an der US-mexikanischen Grenze und die Sicherheit im indopazifischen Raum, Vorrang vor der Sicherheit in Europa und im Nahen Osten hätten.

Jetzt europäisch handeln

Die europäischen Staats- und Regierungschef:innen betonten nachdrücklich, dass der Kontinent das Thema Verteidigung noch ernster nehmen müsse, unabhängig davon, was in den USA geschehe. Viele lobten, dass die europäischen Staaten in der Tat allmählich ihre Anstrengungen verstärkten. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies darauf hin, dass sich die Zahl der Bündnispartner, die das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben erreichen, in diesem Jahr voraussichtlich verdoppeln wird. Zu diesen zählt auch Deutschland, das 2024 zum ersten Mal das Ziel erreichen wird. Kurz vor der Konferenz schlossen Deutschland und Frankreich nach Großbritannien als zweites und drittes G7-Land bilaterale Sicherheitsabkommen mit der Ukraine. Verschiedene Redner:innen, darunter US-Vizepräsidentin Kamala Harris, begrüßten das kürzlich beschlossene 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket der EU für die Ukraine. Damit erhöht sich die zivile und militärische Hilfe der EU auf 90 Milliarden Euro, was – wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell anmerkte – die gesamte Unterstützung der USA übersteigt.

Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, und des Wettlaufs der Ukraine gegen die Zeit waren viele jedoch der Meinung, dass dies nicht ausreicht. Wie der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius es ausdrückte: „Wir in Europa müssen und können mehr tun. Und wir müssen es schneller tun.“ Die lettische Ministerpräsidentin Evika Siliņa unterstrich, dass der Zeitplan für die Stärkung der europäischen Verteidigung „jetzt“ sei. Die Diskussionen zeigten, dass die europäischen Regierungen durchaus wissen, was zu tun ist: zwei Prozent des BIP als „Untergrenze“ für die Verteidigungsausgaben festzulegen, auf der Grundlage gemeinsamer Standards mehr zusammen zu beschaffen und zu entwickeln und die Verteidigungsindustrie mit langfristigen Garantien auszustatten, damit sie ihre Produktion rasch hochfahren kann. Allerdings waren viele enttäuscht, dass dieses Rezept zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion nur teilweise und zu langsam umgesetzt wird. Viele benannten den politischen Willen als fehlende Zutat. Dabei hätte ein gemeinsamer Vorstoß des sogenannten Weimarer Dreiecks – Deutschland, Frankreich und Polen – ein starkes Signal aus München senden können. Durch die Abwesenheit des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des polnischen Premierministers Donald Tusk wurde diese Chance verpasst. Mehrere Entscheidungsträger:innen betonten zudem, wie wichtig es sei, der Öffentlichkeit im eigenen Land die Ausgabenprioritäten zu erklären. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz räumte ein, dass das für die Sicherheit ausgegebene Geld an anderer Stelle fehlen könnte, betonte aber, „ohne Sicherheit ist alles andere nichts.“   

Die Diskussion drehte sich auch um die längerfristige Vision für die Ukraine und andere Länder in der östlichen und südöstlichen Nachbarschaft der EU. Vertreter:innen der Region wiesen darauf hin, wie gefährlich es sei, in der Grauzone zwischen EU und NATO auf der einen und Russland auf der anderen Seite festzustecken, und betonten die existenzielle Bedeutung ihrer Integration in den Westen. Während die Diskussionen keine Klarheit über den Pfad der Ukraine und Georgiens in die NATO brachten, bekräftigten die europäischen Staats- und Regierungschef:innen, wie ernst es ihnen mit dem Versprechen der EU-Mitgliedschaft sei. Da der Beitritt Zeit brauche, zeigten sich viele Vertreter:innen der EU und der Beitrittskandidaten offen für einen schrittweise erfolgenden Beitritt, einschließlich einer Integration in den Binnenmarkt vor der Vollmitgliedschaft. Sie sprachen auch die Verbindung zwischen EU-internen Reformen und der Erweiterung an und konzentrierten sich dabei auf die Frage, wie die zahlreichen Vetopunkte im Beitrittsprozess und generell in der EU-Entscheidungsfindung reduziert werden können. Die Konferenz bot auch eine seltene Gelegenheit für ein bilaterales Treffen zwischen dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew, das vorsichtigen Optimismus hinsichtlich der Aussichten auf einen Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern weckte.[7]

Den Teufelskreis der Gewalt im Nahen Osten durchbrechen

Der Krieg im Gazastreifen nach dem schrecklichen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war der andere große Konflikt, der die Debatten in München prägte. Die Diskussionen konzentrierten sich auf Möglichkeiten zur Linderung des menschlichen Leids, einschließlich der Freilassung von mehr als 100 israelischen Geiseln, die immer noch von der Hamas festgehalten werden, und der israelischen Offensive im Gazastreifen, die bereits zum Tod von fast 30.000 Palästinenser:innen geführt und 17.000 Kinder zu Waisen gemacht hat. Die Konferenz bot Gelegenheit, über die Freilassung von Geiseln zu beraten, unter anderem bei einem Treffen der Chefunterhändler mehrerer Länder und einer Veranstaltung, bei der freigelassene Geiseln und die Familien der noch Entführten über ihre Erfahrungen berichteten. Israels Staatspräsident Isaac Herzog traf auf bilateraler Ebene mit einem der Vermittler zwischen Israel und der Hamas, dem katarischen Premierminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, zusammen und lobte öffentlich dessen bedeutende Bemühungen. Ohne Einzelheiten der Verhandlungen preiszugeben, verwies Al Thani auf die festgefahrenen Positionen in der Frage, was zuerst geschehen muss: die Freilassung der israelischen Geiseln oder ein Waffenstillstand und die Verabschiedung eines humanitären Pakets für den Gazastreifen. Er rief zu einem bedingungslosen Waffenstillstand auf und warnte, dass sich das Zeitfenster für Verhandlungen rasch schließe, angesichts der laufenden Vorbereitungen für eine Militäroffensive auf das dicht besiedelte Rafah, bei der eine Massenvertreibung droht. Der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre warnte, dass Israels Selbstverteidigung nicht verhältnismäßig sei, einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und „eine Sicherheitsherausforderung für Generationen“ kreieren könnte.

Viele Redner:innen bekräftigten in München die Forderung nach einem Waffenstillstand und einem humanitären Korridor und betonten, dass der Teufelskreis der Gewalt in der Region nur mit einer glaubwürdigen Perspektive für eine Zweistaatenlösung durchbrochen werden könne. Zu den Aussichten einer solchen Lösung befragt, erinnerte Herzog an das Trauma der israelischen Bevölkerung nach den Anschlägen vom 7. Oktober und betonte, dass jedes künftige Abkommen die Sicherheit der israelischen Bevölkerung garantieren müsse. Er sagte, dass man Terror nicht als Mittel zur Herbeiführung einer Zweistaatenlösung akzeptieren könne. Er betonte ferner, wie wichtig es sei, die Normalisierung der Beziehungen zu regionalen Akteuren, insbesondere zu Saudi-Arabien, voranzutreiben, da dies die Weichen für die Zukunft der Region neu stellen könnte. In einer anderen Paneldiskussion erklärte der saudische Außenminister Faisal bin Farhan Al Saud, dass die arabischen Staaten zu einer echten Partnerschaft mit Israel bereit seien, wenn dieses einer Zweistaatenlösung zustimme. Viele Redner:innen betonten auch, wie wichtig die dezidierte Eindämmung konfliktanheizender Akteure sei, und verwiesen auf die destabilisierende Rolle des Iran und seiner Stellvertreter. So wurden verschiedene Elemente eines umfassenden Friedensabkommens zwischen Israel, den Palästinenser:innen und den arabischen Ländern besprochen. Die Prioritäten variierten, und die Gelegenheit, miteinander statt übereinander zu sprechen, wurde in München meist vertan. Dennoch äußerten einige, darunter die belgische Außenministerin und der spanische Außenminister, die Hoffnung, dass aus der Tragik auch positive Dynamik erwachsen könne.

Eine Ordnung schaffen, die für alle funktioniert

Die Konflikte in der Ukraine und in Gaza haben nicht nur Ressourcen verschlungen, sondern auch die Kluft zwischen den transatlantischen Partnern und den Ländern des Globalen Südens vertieft. Am Schicksal des Gazastreifens entladen sich die Vorwürfe, dass viele Krisen im Globalen Süden von transatlantischen Politiker:innen und Medien mit anderen Maßstäben gemessen werden oder schlicht zu kurz kommen. Bei der Eröffnung der Konferenz nannte UN-Generalsekretär António Guterres die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, andauernde Krisen – wie die in der Sahelzone, im Sudan oder in Haiti – zu lösen, als Beweis dafür, dass die heutige globale Ordnung nicht für alle funktioniert. „Tatsächlich“, sagte er, „funktioniert sie für niemanden.“ Diese Einschätzung wurde von den Präsidenten von Ghana und Kolumbien sowie der Premierministerin von Barbados auf dem anschließenden Podium weitgehend geteilt.

Bei den Themen Klimawandel, Wasser- und Ernährungssicherheit vermittelten die Diskussionen oft das Gefühl, dass Lösungen bekannt und in Reichweite sind, es aber an politischem Willen mangelt.

Randolf Carr und Nicole KoenigMunich Security Debrief 1/2024: Dunkle Wolken und Silberstreifen am Horizont

Die Debatten in München zeigten, dass grundlegende Veränderungen notwendig sind, damit die globale Ordnung für alle funktioniert. Die Teilnehmenden betonten immer wieder, dass die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das Fundament der globalen Normen bleiben müssen. Sie müssten vor denjenigen geschützt werden, die, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock es formulierte, „nicht [über ihr] Stück vom Kuchen verhandeln, sondern die ganze Bäckerei ausrauben wollen.“ Die konsequente Anwendung dieser Normen und ein offenes Gespräch über Doppelmoral sind überfällig. Bedeutende Herausforderungen, die den Globalen Süden unverhältnismäßig stark betreffen, müssen bewältigt werden. Die dazugehörigen Mittel und Instrumente – Institutionen sowie der Zugang zu Finanzmitteln und Technologien – müssen neu reguliert oder reformiert werden, um inklusiver zu sein. Zum Beispiel haben sich die Risiken der Einführung von künstlicher Intelligenz (KI), insbesondere für die Demokratie, in einem „Superwahljahr“ als gemeinsame Herausforderung erwiesen. Zwanzig Technologieunternehmen unterzeichneten in München eine Vereinbarung, um gemeinsam zu verhindern, dass betrügerische KI-Inhalte weltweit Wahlen beeinflussen.[8] Bei den Themen Klimawandel, Wasser- und Ernährungssicherheit vermittelten die Diskussionen oft das Gefühl, dass Lösungen bekannt und in Reichweite sind, es aber an politischem Willen mangelt. „Mehr Wissen ist nicht erforderlich, um Entscheidungen zu ermöglichen, die [...] den Planeten retten“, sagte Mia Mottley, Premierministerin von Barbados, die gemeinsam mit John Kerry den Ewald-von- Kleist-Preis der MSC für ihr Engagement für Klimagerechtigkeit und finanzielle Solidarität erhielt. Die Welt müsse ihre Versprechen in Bezug auf die Klimafinanzierung einhalten und, was noch wichtiger sei, die Schuldenspirale der ärmsten Länder in den Griff bekommen. Laut Guterres wird die Schuldentilgung dieser Länder im Jahr 2024 ihre gesamten öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur übersteigen. Folglich wurde die Notwendigkeit einer strukturellen Reform der internationalen Finanzinstitutionen immer wieder angemahnt.

Damit die Länder des Globalen Südens vollumfänglich an der Lösung von Problemen mitwirken können, müssen Institutionen wie der UN-Sicherheitsrat inklusiver und repräsentativer werden. Der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar verwies beispielhaft auf die Aufnahme der Afrikanischen Union in die G20 während des indischen Vorsitzes. Der Debatte in München nach zu urteilen, mangelt es nicht an umsetzbaren Reformvorschlägen, sondern an der Bereitschaft der Großmächte, diesen Vorschlägen nachzugeben. Ermutigend ist vielleicht, dass der Ton des US-chinesischen Dialogs weniger rau war als noch vor einem Jahr. Die Spitzendiplomaten der USA und Chinas, Antony Blinken und Wang Yi, betonten ihre Verpflichtung gegenüber der Welt, ihre Beziehung verantwortungsvoll zu gestalten.

Silberstreifen als Anlass zum Handeln verstehen

Die Diskussionen auf der sechzigsten Münchner Sicherheitskonferenz bestätigten, dass in der Tat dunkle Wolken über der Welt hängen. Sie zeigten aber auch, dass es Silberstreifen am Horizont gibt und dass aus Krisen positive Dynamiken entstehen können. Während in München einige Gelegenheiten zum Dialog vertan wurden, wurden andere ergriffen. Die Diskussionen haben gezeigt, dass die Erfolgsrezepte oft schon auf dem Tisch liegen, die Entscheidungsträger: innen sie aber noch in die Praxis umsetzen oder einen tieferen Dialog über die richtige Reihenfolge der Zubereitung der Zutaten führen müssen. Das Entdecken eines Silberstreifens ist also kein Grund zur Selbstzufriedenheit, sondern ein dringender Anlass zum Handeln.

Dunkle Wolken und Silberstreifen am Horizont: Eine Nachlese der Münchner Sicherheitskonferenz 2024

Randolf Carr und Nicole Koenig, „Dunkle Wolken und Silberstreifen am Horizont: Eine Nachlese der Münchner Sicherheitskonferenz 2024“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, Munich Security Debrief 1, Februar 2024, https://doi.org/10.47342/IXXF9801.

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Die Autor:innen danken Ida Büsch für ihre Unterstützung bei der Übersetzung der englischen Version des Debrief.

  1. [1] Julia Hammelehle und Isabell Kump, „Actions Speak Louder Than Words: Key Takeaways From the Munich Leaders Meeting in Nairobi“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, Munich Security Debrief 1, November 2023, doi.org/10.47342/JEHZ9824.
  2. [2] Tobias Bunde, Sophie Eisentraut und Leonard Schütte (Hrsg.), Munich Security Report 2024: Lose-Lose?, München: Münchner Sicherheitskonferenz, Februar 2024, doi.org/10.47342/BMQK9457.
  3. [3] „,Lose-Lose?‘ Den Teufelskreis durchbrechen – MSC Kick-off 2024 in Berlin“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, 14. Februar 2024, perma.cc/5EH6-FVLU.
  4. [4] Nicole Koenig und Leonard Schütte, „Searching for a Common Vision: A Readout From the Munich Security Conference 2023“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, Munich Security Brief 1, Februar 2023, doi.org//10.47342/JPRD3642.
  5. [5] „Trump Says He Wouldn’t Defend NATO Allies From Russia if They’re ‚Delinquent‘“, NPR, 11. Februar 2024.
  6. [6] Außenministerium von Japan, „The G7 Foreign Ministers’ Meeting“, Pressemitteilung, 18. Februar 2024, perma.cc/HXP5-WQLA.
  7. [7] Premierminister der Republik Armenien, „Prime Minister Nikol Pashinyan’s Working Visit to Munich“, Pressemitteilung, 16. Februar 2024, perma.cc/D6E3-8BSC.
  8. [8] „Tech Accord to Combat Deceptive Use of AI in 2024 Elections“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, perma.cc/WNC7-G38X.