

Ein Quantum Zeitenwende?
Zum Paradigmenwechsel für die Nachrichtendienste
AutorGerhard Conrad
AutorGerhard Conrad
Der russische Eroberungs- und Vernichtungskrieg in der Ukraine verdeutlicht den existenziellen Paradigmenwechsel für die Sicherheit Deutschlands, Europas und der westlichen Wertegemeinschaft. Krieg in Mitteleuropa ist wieder eine unmittelbare Realität. Angriffe auf das Bündnisgebiet stehen hier ebenso als Möglichkeit im Raum wie immer heftigere russische und chinesische hybride Kriegsführung. Die Nordostflanke der erweiterten NATO, die Südostflanke bis zum Schwarzen Meer und zum Westbalkan stehen im Fokus. Militärisch ist Deutschland allein schon als Anrainer von Ost- und Nordsee maritim direkt betroffen, ganz zu schweigen von der unmittelbaren Bedrohung durch Luftangriffe und der Betroffenheit durch Zwischenfälle im All und auf hoher See mit ihren gravierenden Risiken für Kommunikation und Energieversorgung. Im Hintergrund und wirkungsmächtig bis hinein nach Deutschland steht China mit seinen weltweiten Ambitionen zur Gegenmachtbildung zum Westen, gerade auch durch Ausbau seiner Beziehungen zu den auch für uns sicherheits-, handels- und ressourcenpolitisch hochbedeutenden Ländern des „Globalen Südens“.
Nachrichten- und Sicherheitsdiensten, in Deutschland also dem Bundesnachrichtendienst, dem Verfassungsschutzverbund aus Bundes- und Landesämtern und dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst, kommt in dieser Lage mehr denn je eine zentrale Bedeutung zu. Ihre Befähigung zur rechtzeitigen Aufklärung und zutreffenden Analyse außen- und innenpolitischer Herausforderungen, Krisen- und Gefährdungsmomente ist eine Grundvoraussetzung für angemessene Entscheidungen und erfolgreiche Problembewältigung. Die Kriege, Katastrophen und Krisen in und um Afghanistan, zwischen Russland und der Ukraine und jüngst zwischen der Hamas und Israel haben vor Augen geführt, welche verheerenden Konsequenzen gravierende Defizite in Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Entscheidungsfindung nach sich ziehen können.
Valide handlungsleitende und handlungsbefähigende strategische Vorausschau muss daher geleistet werden, aber auch eine ganz konkrete, detail- und faktenorientierte Aufklärung von kurz- bis langfristigen militärischen, wirtschaftlichen, subversiven und terroristischen Gefährdungsmomenten. Im Krisen-, Spannungs- oder Verteidigungsfall explodieren die personellen, materiellen und operativen Anforderungen an alle Nachrichten- und Sicherheitsdienste.
Auslandsnachrichtendienste – so unmissverständlich auch das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil – sind ein zentrales Mittel zur Gefahrenabwehr und Selbstbehauptung auf internationaler Ebene. Sie können ihre Aufgabe aber nur erfüllen, wenn sie zeitgerecht handlungsbefähigende Informationen und Perspektiven liefern können. Selbstbehauptung basiert auf Handlungsüberlegenheit, und diese wiederum auf Informationsüberlegenheit, die es zu erringen und zu behaupten gilt.
Nötiger Paradigmenwechsel
Nach Jahrzehnten der aktuell vielbeklagten identitätsstiftenden sicherheitspolitischen Abstinenz und Realitätsverweigerung ist somit auch ein Paradigmenwechsel für die Nachrichtendienste in den Dimensionen Auftrag, Ausstattung, Befähigung und rechtlicher Mandatierung erforderlich. Detailarbeit ist gefragt, damit intelligence handlungsbefähigend ist, das heißt konkret, faktenorientiert und prognostisch. Wer hier patzt, den treffen der Zusammenbruch in Afghanistan, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder auch der Terrorangriff von Hamas unvorbereitet. Es ist das Zusammenspiel zwischen strategic intelligence und staatlichem Handlungswillen, das den Unterschied macht. Wie die Bundeswehr müssen daher auch die deutschen Dienste in die Lage versetzt werden, unter Einsatz der modernsten Mittel unserer Zeit mit der neuen Quantität und Qualität der Herausforderungen Schritt zu halten. Mit einem Quantum Zeitenwende ist es da nicht getan. In einer Welt, in der wir in Europa zunehmend auf uns selbst verwiesen sein werden, sind insbesondere folgende konkrete Schritte erforderlich.
Erstens ist ein weiterer Auf- und Ausbau einer strategischen Kapazität mit eigenen Satelliten, einem umfassenden Sensor-Mix, zu dem imagery intelligence (IMINT), measurement and signature intelligence (MASINT) sowie technical intelligence (TECHINT) gehören, sowie durch Künstliche Intelligenz (KI) unterstützten verzugslosen Analyseprozessen unerlässlich. Außerdem müssen die technischen Beschaffungsoptionen in signals intelligence (SIGINT), communication intelligence (COMINT) und Computer Network Operations, die rechtlichen Befugnisse sowie die operativen Aktions- und Reaktionsfähigkeiten an den internationalen Standard der Verbündeten angeglichen werden. Die Befähigungen der Bundeswehr in den Bereichen Intelligence, Surveillance and Reconnaissance (ISR) und Joint Intelligence, Surveillance and Reconnaissance (JISR) müssen hier ebenso vorangebracht werden wie jene des Bundesnachrichtendienstes.
Zweitens ist der konsequente Aufbau und frühzeitige Einsatz von KI und Quantum-Computing in allen Beschaffungs-, Analyse- und Kommunikationsprozessen, innerhalb und zwischen den Diensten, aber auch in der Optimierung der Entscheidungsprozesse in der Bundesregierung gefragt. Mit der präzedenzlosen Beschleunigung globaler Prozesse müssen die eigenen Fähigkeiten Schritt halten.
Außerdem sollte drittens ein leistungsstarkes Gesamtlage- und Analysezentrum als Unterstützungselement für die Entscheidungsfindung des Bundeskabinetts eingerichtet werden. Dieses Zentrum muss seinerseits auf einem Netzwerk komplementär strukturierter Lage- und Analysezentren in den Ressorts und Behörden in Bund und Ländern aufsetzen.
Viertens sind präzedenzlose personelle Aufstockungs- und Qualifizierungsoffensiven auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Dienste erforderlich, insbesondere auch angesichts einer so nicht dagewesenen demographisch bedingten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Neue personalwirtschaftliche und personalrechtliche Wege zur Rekrutierung, Ausbildung, Förderung und zum Einsatz erstklassiger fach- und sachspezifischer wie sprachlicher Expertise in allen Kernkompetenzen von Beschaffung und Auswertung müssen beschritten werden. Nachrichtendienste sind zur Beschaffung und Auswertung von Informationen berufen mithin zur Produktion von Wissen, nicht zum Verwaltungsvollzug. Sie sind Teil eines kognitiven Wertschöpfungsprozesses zur Unterstützung staatlicher Entscheidungsprozesse. Spezifische, hochqualifizierte Sprach-, Sach- und Fachkenntnis, Analysefähigkeit und Zeitgerechtigkeit der Auftragserfüllung bilden damit das Fundament, auf dem die Existenzberechtigung eines Nachrichtendienstes beruht. Qualität und Qualifikation des Personals sind mithin Elemente von existenzieller strategischer Bedeutung.
Nicht zuletzt bedarf es eines Paradigmenwechsels in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung angesichts einer über Jahrzehnte gesamtgesellschaftlich gepflegten, pauschalen Ablehnung aller Elemente staatlicher hard power, die neben der Bundeswehr auch die Dienste betroffen und erheblichen Schaden verursacht hat. Beide werden im öffentlichen Bewusstsein als essenzielle, grundgesetzlich legitimierte Mittel der Daseinsvorsorge und Selbstbehauptung verankert werden müssen. Dies wird nur mit einer langfristigen nachhaltigen Informationspolitik der Bundesregierung bewältigt werden können. Öffentlich sichtbare Wertschätzung und konkret kommunizierte Übernahme von politischer Verantwortung sind hier die Voraussetzungen für einen Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung.

Ein Quantum Zeitenwende? Zum Paradigmenwechsel für die Nachrichtendienste
Gerhard Conrad, „Ein Quantum Zeitenwende? Zum Paradigmenwechsel für die Nachrichtendienste“, München: Münchner Sicherheitskonferenz, Munich Security Opinion 1, Mai 2024, https://doi.org/10.47342/AMQW8289.
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